Band 1 – Generationenschiff

Prolog

Gier und Egoismus hatten die Menschheit an den Rand ihrer Existenz gebracht. Säbelrasselnd stand man sich gegenüber – an Ländergrenzen, aber auch im Kleinen direkt an der Nachbarstür. Es gab keine Grautöne mehr, nur Schwarz und Weiß.

Die Hoffnung war zu einer schwachen Flamme zwischen Stürmen aus Hass geworden, die zu erlöschen drohte. Dann brachte das All einen Lichtblick.

2048 stürzte ein fremdes Flugobjekt nahe dem Eiffelturm ab. Innerhalb von Minuten erreichte durch soziale Medien und Live-Berichterstattung die Nachricht jeden Winkel der Erde. Furcht ergriff die Menschen bei dem Gedanken, dass einer der Machthaber den roten Knopf gedrückt haben könnte und der Dritte Weltkrieg unausweichlich bevorstand. Doch die Untersuchungen offenbarten etwas anderes: Es handelte sich um ein Raumschiff eindeutig nicht irdischen Ursprungs. Der Pilot war bei dem Absturz ums Leben gekommen, aber seine Existenz veränderte das Bewusstsein der Menschheit. Sie war der Beweis, dass die Menschen nicht allein waren. Eine bittere Erkenntnis: Hatte man sich lange für die Krone der Schöpfung gehalten.

Die Menschheit erkannte, dass sich etwas ändern musste. Wenn es ein derart technisch fortgeschrittenes Volk dort draußen gab, stellte man sich unweigerlich eine Frage: Waren sie Freund oder Feind? Die Antwort darauf kannten nur die Unbekannten selbst, und die Menschen waren gut beraten, sich auf beides vorzubereiten. Etwas, das sie nur tun konnten, wenn sie ihre Ressourcen bündelten – Rohstoffe sowie auch ihr geistiges Potenzial.

Die darauf folgenden technischen Entwicklungen liefen im Zeitraffer. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde der Menschheit bewusst, wie viel sie gemeinsam erreichen konnte, und bald griffen sie nach den Sternen.

Wir befinden uns im Jahr 2108.

Dies ist die Geschichte der Hawking, dem ersten Raumschiff mit Überlichtantrieb. Die zukünftigen Entscheidungen ihrer Besatzung bestimmen über das Erbe der Menschheit. Denn das Erbe von morgen liegt in den Händen von heute.

Faktor 2

»Maschinenraum meldet Bereitschaft.«

Ström nickte seinem Kommunikationsoffizier zu und verließ seine Kommandoeinheit im hinteren Drittel der Brücke. »Adams, öffnen Sie einen schiffsweiten Kanal.«

»Ist offen, Sir.«

»Hier spricht Ström. In fünf Minuten unternehmen wir einen weiteren Anlauf für Faktor 2. Schließen Sie Ihre Kaffeebecher und schnallen Sie sich an. Notieren Sie während des gesamten Testzeitraums Auffälligkeiten und leiten Sie diese anschließend an Mr. Adams weiter. Direkte Meldungen nur, wenn unmittelbare Gefahr für Mensch oder Material droht. Ström Ende.«

Alle Mitglieder der Brückencrew begaben sich auf ihre Plätze und schlossen ihre Sicherheitsgurte, die sie nach mehrfachen Ausfällen der künstlichen Schwerkraft bei vorangegangenen Tests nachträglich installiert hatten.

»Countdown auf fünf Minuten ab jetzt«, sagte Adams.

Seit drei Monaten befanden sie sich auf ihrem Testflug im All. Aus einer Gruppe, die allein auf Basis ihrer Kompetenzen zusammengestellt worden war, hatte sich trotz – oder gerade wegen – der vielen Probleme ein Team gebildet. Routinen hatten sich eingeschliffen und Blicke ersetzten verbale Befehle.

Die ESS Hawking war der Prototyp der bisher höchsten menschlichen Technologie: ein Raumschiff, das theoretisch mit Überlichtgeschwindigkeit fliegen konnte. Inspiriert von Science-Fiction und den Theorien von Alcubierre und Lenz war es Wissenschaftlern und Ingenieuren gelungen, einen Antrieb zu entwickeln, der das Schiff in einer Blase einschloss und die Raumzeit um es herum krümmte.

Im Bereich bis zur Lichtgeschwindigkeit war dies bereits gelungen und der Antrieb wurde innerhalb des Sonnensystems auf Forschungs- und Bergbauschiffen standardmäßig eingesetzt. Doch die Menschheit wollte mehr! Hinaus aus dem galaktischen Vorgarten und entdecken, was sich in der Nachbarschaft befand.

Bevor das jedoch möglich war, musste es der Hawking gelingen, die Raumzeitblase stabil zu halten. Was in Experimenten und Simulationen funktioniert hatte, stellte sich in der Realität als steiniger Weg dar. Die angespannten Nerven der Crew und die Kaffeeflecken an der Decke der Mensa zeugten von den bisherigen Fehlschlägen.

COUNTDOWN ENDET IN 3, 2, 1 – COUNTDOWN BEENDET

»Also dann auf ein Neues«, sagte Ström mit leichter Resignation in der Stimme. Sie hatten den Zeitplan der Mission schon deutlich überschritten und in den letzten Wochen nur wenige Erfolge gehabt. Auch wenn sich Ström immer bemühte, seiner Besatzung gegenüber optimistisch zu bleiben, schlichen sich seine Gefühle hin und wieder mit ein.

Bisher mussten sie jedoch den Fokus vollständig auf den Antrieb legen, den sie bis heute nicht am Laufen hatten. Faktor 4 wäre laut den Ingenieuren das maximal Mögliche gewesen. Inzwischen würde sich die Crew schon mit der Hälfte zufriedengeben.

»Mr. Navarro, steigern Sie in 0,1-Faktor-Schritten die Geschwindigkeit.« Ström zog den Bildschirm seiner Konsole aus der rechten Armlehne. Auf der Hauptanzeige befanden sich die Blaupause der Hawking sowie der Status der Lebenserhaltung, des Fusionsreaktors und des Antriebs. Um die Umrisse der Hawking pulsierte ein Oval.

Mr. Corby, der eigentlich als Wissenschaftsoffizier an Bord war, hatte das Magnetfeld, das sie vor der kosmischen Strahlung schützte, verstärkt. Eigentlich sollte an seiner Stelle jemand aus dem Technikerteam des Maschinenraums auf der Brücke sein, aber das älteste Besatzungsmitglied hatte, in Ermangelung an Forschungsprojekten, seinen Dienst angeboten. Im Laufe seiner vielen Jahre im All hatte Corby auf allen Positionen mehr als ausreichend Erfahrung gesammelt.

»Leite Aufbau der Raumzeitblase ein und beginne mit Steigerung auf Faktor 1 in 0,1-Schritten.« Langsam bewegte Navarro den Regler auf seinem Schaltpult nach oben. Bei den Bildschirmen der Hawking handelte es sich zu neunzig Prozent um Touchscreens, die Armaturen selbst waren mit physischen Reglern ausgestattet. Damit konnte man die Kosten deutlich senken, da im Fall eines Defekts nicht die gesamte Einheit ausgetauscht werden musste.

Bis Faktor 1 war der Ablauf nichts Besonderes mehr für die Crew. Die Lichtgeschwindigkeit hatten sie bereits beim ersten Anlauf ohne Schwierigkeiten erreicht und waren danach optimistisch für den weiteren Verlauf gewesen.

Ström sah zu seinem Kommunikationsoffizier. Der junge Adams zeigte einen Daumen hoch, zusammen mit einem zuversichtlichen Lächeln. In diesem Fall waren keine Nachrichten gute Nachrichten.

»Faktor 1 erreicht, Captain«, meldete Navarro.

Adams schaltete sich auf das schiffsweite Interkom. »An alle Besatzungsmitglieder, wir beschleunigen jetzt auf Faktor 2.«

Der Steuermann drehte sich kurz zu Ström und vergewisserte sich, dass er weitermachen konnte. Der Captain nickte.

Wenn wir es nur für zehn Sekunden halten könnten, wäre ich schon zufrieden, belog sich Ström. Er wollte mehr als lächerliche zehn Sekunden. Sein Ziel waren die Weiten des Alls, das Entdecken neuer Welten und das Stillen seiner Neugierde, die er in sich trug, seit er als kleiner Junge das erste Mal durch das Teleskop seines Großvaters gesehen hatte.

Das Kommando über die Hawking war ein wahrgewordener Traum, doch statt mit ihr auf Forschungsreise zu gehen, liefen Wetten unter den Besatzungsmitgliedern, was beim nächsten Versuch schiefgehen könnte. Es wäre Ströms Aufgabe gewesen, das zu unterbinden, aber er ließ seine Crew gewähren und beteiligte sich sogar daran. Es lag in seinen Händen, die Motivation der Besatzung hochzuhalten, und die Wetten trugen dazu bei, ebenso wie das Feiern noch so kleiner Erfolge.

»Faktor 1,1«, rief der Steuermann.

Das Schiff blieb ruhig. Ströms Blick wechselte vom Display seiner Konsole hin zum Hauptschirm am Kopf der Brücke. Die Sterne zogen als Linien an ihnen vorbei.

»Faktor 1,5«, meldete Navarro.

Bis hierher waren sie beim letzten Versuch auch gekommen, dann hatten sich leichte Unregelmäßigkeiten in der Raumzeitblase gezeigt und der Versuch wurde zur Sicherheit abgebrochen.

»Wir bleiben dabei«, befahl Ström und drückte einen Knopf an der linken Stuhllehne. »Samia, wie sieht es bei euch aus?«

»Energieflusswerte sind konstant, alle Werte des Fusionsreaktors und des Antriebs sind im grünen Bereich. Von meiner Seite gibt es keinen Grund abzubrechen«, antwortete seine Chefingenieurin und Freundin aus Studienzeiten. »Dennoch würde ich empfehlen, die Geschwindigkeit für eine Viertelstunde zu halten, um mehr Daten zu sammeln«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.

»Angenommen, Ström Ende.« Er richtete sich an seinen Steuermann. »Sie haben es gehört. Faktor 1,5 für fünfzehn Minuten halten.«

»Aye, Sir.«

Ström lehnte sich zurück und konzentrierte sich auf das allgegenwärtige Summen der Geräte. Es war so schön gleichmäßig, dass es seine angespannten Nerven beruhigte. Gleichzeitig musste er aufpassen, dass er sich nicht zu sehr darin verlor. Je mehr er in das Schiff hineinhorchte, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass seine Sinne ihm Streiche spielten.

War da ein Surren, das dort sonst nicht war? Roch es verdächtig nach einem schmorenden Kabel? Knisterte etwas oder gab es sonst irgendwelche Anzeichen dafür, dass ihnen das Schiff gleich unter dem Hintern auseinanderbrach?

»Keine Meldungen von den Decks«, durchbrach Adams mit leicht heiserer Stimme die Stille.

»Der Funk ist auch ganz sicher nicht ausgefallen?«, fragte Ström.

»Negativ, alle Kanäle sind frei von Störungen.«

»Tja, dann schulde ich unserer Ärztin wohl einen Kaffee.«

Corby schmunzelte, ohne von seiner Station aufzuschauen. »Und ich bekomme dann heute Abend einen echten Masala-Chai von Madan, wenn wir Faktor 2 erreichen.«

Ström hob beide Augenbrauen. »Sie haben sich auf eine Wette mit unserer Chefingenieurin eingelassen? Mutig.«

Corby zuckte mit den Schultern. »Ich bin eben ein Optimist.«

»Und Sie?« Ström wandte sich an Adams. »Mit wem haben Sie eine Wette abgeschlossen?«

Der junge Kanadier blieb mit seinem Blick bei der Konsole. »Mit niemandem«, gab er zu. »Ich will einfach nur, dass die Systeme funktionieren.«

»Das wollen wir alle. Navarro, wie lange noch?«

»Fünf Minuten, Captain.«

»Samia, wie sieht es aus?«

»Die Daten sehen gut aus«, kam die Stimme der Ingenieurin aus den Lautsprechern der Brücke. »Ich bin mal vorsichtig optimistisch, aber wenn das so weiter geht, werde ich heute Abend eine Tasse Tee aus meinen privaten Vorräten ärmer sein.«

Es war das erste Mal seit Tagen, dass Ström sie lachen hörte.

»Wenn wir Faktor 2 schaffen, wird heute eine Party gefeiert, wie die Milchstraße sie noch nie gesehen hat«, stellte der Captain in Aussicht.

»Das hat jetzt der ganze Maschinenraum gehört, Eric. Wir nehmen dich also beim Wort. Madan Ende.«

»Dann bringen Sie unsere Hawking mal zur Party, Mr. Navarro. Beschleunigung auf Faktor 2 in 0,1-Schritten.«

»Aye, Sir. Geben Sie der Küche schon mal Bescheid, dass ich diesmal die Füllung für die Tacos mache. Wer auch immer das beim letzten Mal als mexikanisch bezeichnet hat, war noch nie in Mexiko.«

»Mr. Adams, Sie haben es gehört. Schreiben Sie Navarros Ansage schon mal an erster Stelle bei den Prioritäten.«

»Ist notiert, Captain.«

Die Gespräche hatten die Atmosphäre aufgelockert. Leider wurde diese sofort von einer ernsten Stille abgelöst, als Navarro seine Hand an den Regler für die Geschwindigkeit legte.

»Faktor 1,6.«

Ein Rundblick über die Brücke. Alle Bildschirme arbeiteten normal. Corbys Stirn lag angespannt in Falten, Adams hielt sich mit einer Hand am Rand der Konsole fest und Navarro hatte den Rücken durchgestreckt. Ström selbst ertappte sich dabei, wie er immer wieder die Zehen anzog. Es war seine Art, mit der Anspannung umzugehen, ohne sie nach außen hin zu zeigen.

»Faktor 1,7.«

»Raumzeitblase stabil, Magnetschild arbeitet innerhalb normaler Werte, Plasmatemperatur des Reaktors konstant«, sagte Corby.

»1,8.«

Adams schaute zu den Deckenplatten auf. Bei ihrem ersten Versuch, über Faktor 1 hinauszukommen, hatte sich eine von ihnen gelöst und war ihm vor die Stirn geschlagen. Sein Misstrauen gegenüber den Klammern, die diese Platten halten sollten, saß noch immer tief.

»Faktor 1,9, Captain.«

Ström biss sich auf die Unterlippe und obwohl es im Schiff durchweg 21°C waren, schwitzte er, als käme er direkt von einer Fitnesseinheit.

»Meldung?«, fragte er.

»Keine«, gab Adams zurück. »Und das System funktioniert«, fügte er eilig hinzu.

»Wir erreichen Faktor 2 in drei, zwei, eins!«

Statt des Ausbruchs von Begeisterung legte sich eine explosive Stille über die Brückencrew. Hatten sie es wirklich geschafft oder war es nur dieser eine Moment der Ruhe, bevor ihnen sämtliche Gerätschaften um die Ohren flogen?

»Geschwindigkeit halten«, befahl Ström. »Maschinenraum, Statusbericht.«

»Alle Systeme arbeiten normal«, antwortete Madan. »Ich empfehle, die Geschwindigkeit für fünf Minuten zu halten, damit wir eine erste Analyse durchführen können.«

»Die sollt ihr bekommen.«

»Danke. Madan Ende.«

War jetzt die Zeit gekommen, in Jubelstürme auszubrechen? Das Ziel, auf das sie seit drei Monaten hingearbeitet hatten, war erreicht. Nach den ganzen Rückschlägen, Doppelschichten und ihrem viel zu hohen Kaffeekonsum wäre es der richtige Moment gewesen. Stattdessen fühlte sich Ström nur erleichtert und wenn er Samias Stimme richtig gedeutet hatte, ging es ihr ebenso.

Dabei war dieser Schritt von großer Wichtigkeit für das Faktor-Projekt. Es bewies, dass es möglich war, sich mit Überlichtgeschwindigkeit zu bewegen, und die Sterne waren damit ein ganzes Stück näher gerückt. Türen für neue Expeditionen hatten sich geöffnet, Welten, die man bisher nur mit Teleskopen beobachten konnte, waren zum Greifen nahe.

Alles, wovon Ström sein Leben lang geträumt hatte, könnte wahr werden. Wäre da nicht etwas Jubel angebracht? Oder zumindest Freude? Warum saß er nur da, starrte den Bildschirm an und nahm voller Erleichterung zur Kenntnis, dass ihnen die Hawking nicht auseinandergebrochen war?

»Adams, öffnen Sie einen schiffsweiten Kanal.« Er wartete das Nicken des jungen Mannes ab und richtete sich an seine Besatzung: »Wir haben heute etwas erreicht, das vor fünfzig Jahren noch die Fiction in der Science-Fiction war. Dies alles haben wir nur geschafft, weil wir gemeinsam an allen Problemen gearbeitet haben. Ich weiß den Einsatz von jedem Einzelnen hier zu schätzen und möchte mich für jede Stunde, für jede Minute mit Ihnen allen bedanken, die wir auf diesem Schiff gedient haben. Heute werden wir noch einmal unsere Ärmel hochkrempeln und für den morgigen Tag setze ich eine allgemeine Pause an. Um 20:00 Uhr wird eine Feier in der Mensa stattfinden. Jeder ist herzlich eingeladen. Ich weiß, dass das sicher jeder Captain von seiner Crew sagt, aber ich bin mir sicher, es gibt keine bessere in diesem Teil des Alls. Ich freue mich auf den Abend mit Ihnen allen. Ström Ende.«

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